„Wir dürfen darüber nicht den Verstand verlieren“
- Jörg Peterkord
- 13. Jan. 2016
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Jan. 2021
Seit vielen Jahren äußert sich Hans-Ulrich Jörges als politischer Kommentator zu den Entwicklungen in der Bundesrepublik. Wöchentlich erscheint im Stern seine Kolumne „Zwischenruf aus Berlin“. Die Financial Times zählte ihn zu den einflussreichsten Kommentatoren der Welt. Das Netzwerk Eschendorf freut sich, ihn für den Vortrag „Vom Flüchtlingsjahr ins Kriegsjahr gewonnen zu haben“ beim Grünkohlessen am 28. Januar im Stadtparkrestaurant gewonnen zu haben.
Im Interview für den Rheiner Anzeiger beantwortete er die Fragen von Jörg Peterkord.
Herr Jörges, Sie verzichten in Rheine auf ein Honorar zugunsten einer Spende an die Organisation „Moabit hilft“. Die Bürgerinitiative kooperiert auch mit der „Berliner Obdachlosenhilfe“. Wie wichtig ist es gerade in diesen Tagen, Initiativen der Flüchtlingshilfe mit sozialen Projekten zu vernetzen, die das soziale Klima insgesamt verbessern?
Hans-Ulrich Jörges: Es muss unbedingt vermieden werden, dass Deutschland alle Kräfte für die Flüchtlingshilfe aufbietet, andere Notleidende darüber aber in Vergessenheit geraten und benachteiligt werden. Das gilt vor allem für Ernährung und Kleidung, aber auch für Wohnen und Arbeiten. Deutschland ist, nicht nur gemessen an anderen Ländern, ungemein wohlhabend. Die Hilfe für Flüchtlinge gibt uns Gelegenheit, ja sogar den Auftrag, auch die soziale Lage anderer Bedürftiger kritisch zu prüfen. Und zu verändern.
Der bayrische Landrat Dreier hat aus Protest einen Bus mit Flüchtlingen aus Niederbayern zum Kanzleramt nach Berlin hin- und hergeschickt. Es geht um den Umgang mit Menschen. Hilft es, Menschen medienwirksam als „Verantwortungslast“ wie beim Schwarze- Peter-Spiel an Verantwortungsträger einzusetzen?
Hans-Ulrich Jörges: Ich fand es geradezu widerwärtig, wie dieser bayerische Landrat Flüchtlinge für ein höchst persönliches Spektakel missbraucht hat. Die Würde des Menschen ist unantastbar, heißt es in unserem Grundgesetz. In diesem Fall ist sie angetastet worden, und das auch noch von einem Amtsträger. Wir wissen alle, dass Bayern kein Notstandsgebiet ist – auch, was die Situation von Flüchtlingen anbetrifft. Ich hoffe sehr, dass die Exzesse in Köln nicht den menschlichen Respekt vor Flüchtlingen so weit ramponiert haben, dass derartiger Missbrauch um sich greift.
Wird mit solchen Symbol-Aktionen bei anderen Menschen nicht auch eine Haltung begünstigt, die diese den Bomben-, Hunger- oder Kältetod von Menschen in Not andernorts achselzuckend zur Kenntnis nehmen lässt?
Hans-Ulrich Jörges: Trotz der tiefen Spaltung unseres Landes in der Flüchtlingsfrage und trotz der Verrohung der Auseinandersetzung bleibe ich sehr zuversichtlich, dass gutmeinende und mitfühlende Menschen ihre Haltung nicht verändern, gar verlieren werden. Uns wird viel abverlangt in diesen irren Zeiten. Wir dürfen darüber nicht den Verstand verlieren. Und sollten die Würde unseres Nächsten, wie auch unsere eigene, gelassen verteidigen.
Wie würde aus Ihrer Sicht im Idealfall ein Engagement der EU aussehen, um den IS als wesentliche Fluchtursache auszulöschen?
Hans-Ulrich Jörges: Den Idealfall Europa gibt es leider nicht. Und das wird sich auch nicht rasch ändern. Aber Träumen ist ja erlaubt. Also träumen wir mal von einer idealen EU: Sie vermittelt einen Waffenstillstand in Syrien und bringt die Erzfeinde Iran und Saudi-Arabien an einen Tisch. Sie nimmt die Türkei an die Hand, damit deren Verbindungen zum IS restlos gekappt werden, insbesondere der Import von IS-Öl. Sie bildet eine multinationale Bodentruppe, um dem IS das Land zu nehmen und große Zentren wie die Millionenstadt Mossul zu befreien. Sie unternimmt einen neuen Anlauf, da die USA in dieser Hinsicht ausfallen, um bei der Bildung eines von Israel anerkannten palästinensischen Staates voranzukommen. Sie verabschiedet einen Marshall- Plan für den Wiederaufbau des Irak und Syriens, außerdem für die wirtschaftliche Stabilisierung der Türkei, Jordaniens und des Libanon – und übernimmt zur Überbrückung Flüchtlingskontingente aus diesen Ländern. Das wird später abgelöst von einem ehrgeizigen Heimkehrer-Programm für Flüchtlinge. Mit anderen Worten – und einfach ausgedrückt: Die EU übernimmt politisch, militärisch und ökonomisch Verantwortung für den Nahen Osten.
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